Inter und andere Variationen

In diesem Abschnitt geht es um inter/Intersex/Intergeschlechtlichkeit und weitere Variationen der Geschlechtsmerkmale (VdG).

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Was ist inter (oder intergeschlechtlich oder intersexuell)?
Intergeschlechtliche Personen weisen sowohl männliche als auch weibliche körperlichen Merkmale auf. Dabei können sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsmerkmale vollständig vorliegen oder die Merkmale des „einen“ Geschlechts sind nur teilweise angelegt. Besitzt also eine als männlich zugeordnete Person (kann insbesondere cis Männer betreffen), im Bauchraum Teile eines Eileiters, einer Gebärmutter oder einer Vagina, ist er nach dieser Definition intergeschlechtlich. Theoretisch könnte also ein größerer Teil der Bevölkerung, als bisher angenommen, intergeschlechtlich sein. Denn kaum ein Mensch lässt sich wirklich vollständig darauf untersuchen, ob vielleicht in seinem Körper (kleine) Teile von Geschlechtsmerkmalen des „anderen“ Geschlechts verborgen sind. Auch könnte es sein, dass der Chromosomensatz nicht in allen Zellen mit dem zugeordneten Geschlecht übereinstimmt.

Übersicht über die bekanntesten Varianten der Geschlechtsentwicklung

Bei der Geburt eines Kindes, dessen Geschlechtsmerkmale nicht eindeutig dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zugeordnet werden können, wurde früher dessen Eltern eindringlich nahegelegt, sich bei dem Kind für eines der beiden Geschlechter zu entscheiden und den Körper des Kindes dementsprechend operativ anzupassen. Meist erfolgte eine Verweiblichung, da es operationstechnisch leichter zu bewerkstelligen war. Begründet wurden diese Eingriffe mit dem Wohl des Kindes und dienten in erster Linie dazu, Eltern, die durch die Geburt eines intergeschlechtlichen Kindes (oftmals durch Angehörige der Gesundheitsberufe selbst) verunsichert wurden, vermeintlich schnelle und effiziente Hilfe anzubieten.

Derartige Operationen werden auch noch heute durchgeführt, sind jedoch nicht mehr der Regelfall (→Leitlinien) und in einigen Ländern inzwischen gesetzlich verboten (→D). Aufgrund der Tragweite körperlicher Eingriffe an den Geschlechtsorganen, bei denen es sich um Körperverletzungen an nicht-einwilligungsfähigen Kindern handelt, und dem Fehlen einer medizinischen Notwendigkeit (im juristischen Sinne), sind derartige Maßnahmen abzulehnen.

Die Geschlechtsidentität oder die geschlechtliche Selbstwahrnehmung eines Kindes ist in den ersten Lebenswochen und -monaten noch nicht entwickelt (und selbst wenn, können die Kinder es uns Erwachsenen nicht mitteilen). Zudem ist also überhaupt nicht klar, in welche Richtung sich die →geschlechtliche Selbstwahrnehmung des kleinen inter Kindes entwickeln wird. Operiert man ein junges inter Kind zu einem bestimmten Geschlecht, z.B. zum Mädchen und das Kind stellt im Laufe seines Heranwachsens, dass es ein männliches Geschlechtsempfinden hat, müssen die zuvor entfernten männlichen Geschlechtsorgane wieder operativ aufgebaut werden. Einerseits ist das natürlich extrem unangenehm und absolut unnötig, andererseits können durch Operationen Organe, die einmal entfernt wurden, niemals wieder im Originalzustand wieder hergestellt werden.

Eine Entscheidung im Sinne des Kindeswohls ist nur sachgemäß möglich, wenn dem Kind selbst Gehör geschenkt wird. Daher kann bei Therapieentscheidungen mit fehlender medizinischer Notwendigkeit eine elterliche Zustimmung das Einverständnis des Kindes nicht ersetzen. Weder Eltern noch Ärzte können die geschlechtliche Entwicklung eines Kindes vorhersehen und damit ist jede Entscheidung „für“ das Kind quasi hinfällig, wenn das Wohl des Kindes ernst genommen wird. (Präambel S2k-Leitlinie 174/001: Varianten der Geschlechtsentwicklung aktueller Stand: 07/2016)

Ob intergeschlechtliche Menschen als trans zuordnen oder nicht, hängt von ihrer persönlichen Entscheidung ab wie auch von der eigenen geschlechtlichen Sozialisierung. Falls es Interessierten wichtig sein sollte, das zu wissen: einfach mal fragen.

Weitere Informationen finden Sie beim Bundesverband Intergeschlechtliche Menschen e.V.

Was das Aussehen von inter Personen betrifft, ist keine Verallgemeinerung möglich. Manche haben eine männliche Erscheinungsform, manche eine weibliche, andere wiederum wirken androgyn. Zusammengefasst lässt sich festhalten: Sie sehen aus, wie andere Menschen auch.

Androgyne Menschen wirken vom Aussehen her weder männlich noch weiblich, sondern irgendwie dazwischen.
Der Begriff „androgyn“ kommt aus dem Griechischen und vereint die Worte „andros“ (Mann) und „gyne“ (Frau). Beide Worte vereint ergeben das Wort androgyn. Die Bedeutung von „androgyn“ ist also die Vereinigung von männlichen und weiblichen (optischen) Merkmalen. Während sich der Begriff inter auf körperliche Merkmale wie Geschlechtsorgane, Keimdrüsen, Hormone, Chromosomen bezieht, also z.B. auf das Vorhandensein von männlichen und weiblichen Geschlechtsorganen (selbst wenn diese auch nur teilweise angelegt sind), bezieht sich der Begriff androgyn auf das Aussehen einer Person, d.h. auf die äußere Erscheinung.

Inter und androgyn stehen also nicht in direktem Zusammenhang. Inter Personen können androgyn aussehen (das muss aber nicht sein), androgyne Personen können intergeschlechtlich sein (müssen es aber nicht). Menschen mit einem komplett weiblichen äußeren Erscheinungsbild können dennoch im Inneren Hoden haben, die Testosteron produzieren. Diese intergeschlechtlichen Menschen können nicht vermännlichen, da ihr Körper z.B. aufgrund veränderter Hormonrezeptoren das Testosteron erkennen kann (CAIS, d.h. komplette Androgen-Insensitivität). Bei einer verwandten Form der Intergeschlechtlichkeit, der Partiellen Androgen-Insensitivität (PAIS), können die Testosterone nur eingeschränkt wirken, sodass auch hier trotz eines männlich zugeordneten Chromosomensatzes und Testosteron-Produktion der Körper nur teilweise vermännlicht.

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Variationen der Geschlechtsmerkmale – Leitlinien

Leitlinien: Hierbei handelt es sich um eine Orientierung mit Empfehlungen, wie Erkrankungen festgestellt und behandelt werden sollten. Zielgruppen sind Ärzt_innen, Pflegekräfte sowie weitere Angehörige der Gesundheitsberufe. Sie sollen dazu beitragen, dass Patient_innen angemessen versorgt und behandelt werden. Dabei werden aktuelle Kenntnisse zusammengetragen undseine Schaden-Nutzen-Abwägung vorgenommen. Darauf basierend werden konkrete Empfehlungen zum Vorgehen abgeleitet. Sie informiert zudem darüber, wie gut eine Empfehlung wissenschaftlich belegt ist und muss daher regelmäßig erneuert werden.

Im Gegensatz zu Richtlinien sind Leitlinien rechtlich nicht verbindlich, was bedeutet, dass Ärzt_innen von der in der Leitlinie empfohlenen Behandlung abweichen können, wenn sie denken, dass sie für einen bestimmten Patienten nicht geeignet ist. Abweichungen sollten aber jeweils begründet sein.

AWMF-Leitlinien: Leitlinien sind systematisch entwickelte Aussagen, die den gegenwärtigen Erkenntnisstand wiedergeben, um die Entscheidungsfindung von Ärztinnen sowie Angehörigen von weiteren Gesundheitsberufen und Patientinnen/Bürger*innen für eine angemessene Versorgung bei spezifischen Gesundheitsproblemen zu unterstützen. Sie sollten auf einer systematischen Sichtung und Bewertung der Evidenz und einer Abwägung von Nutzen und Schaden alternativer Vorgehensweisen basieren.

Im Folgenden finden sich Deutsche Leitlinien zu inter/DSD und weiteren Variationen der Geschlechtsmerkmale

S2k-Leitlinie Varianten der Geschlechtsentwicklung (2016, AWMF-Leitlinien, pdf)

„Das Bewusstsein für die Unzulänglichkeit des Entweder/Oder von „Zweigeschlechtlichkeit“ ermöglicht der Fachperson, gemeinsam mit der betroffenen Person und deren Angehörigen, das Feld des gelebten
Geschlechts, sei es als Gesamtperson oder in spezifischen Verhaltensweisen, neu zu entdecken und zu definieren. Dabei entsteht aus dem Integral von Weiblich- und Männlichkeit eine ganz individuelle Dimension, die insbesondere Mitglieder des multidisziplinären Betreuungsteams für sich reflektiert haben sollten (Streuli, Kohler et al. 2012). Unabhängig von der biologischen Kondition dürfte dieser Prozess für alle Beteiligten eine persönliche Bereicherung darstellen. Jene „Mehrgeschlechtlichkeit“ kann auch für das Selbstverständnis Nichtbetroffener existentielle Aspekte liefern.“ (aus der Präambel)

S1k-Leitlinie Adrenogenitales Syndrom (AGS) im Kindes- und Jugendalter (2021, AWMF-Leitlinien, pdf)

Anatomisch-physiologische Vor-Informationen: Die Nebennierenrinde lässt sich in drei Zonen unterteilen, die unterschiedliche Hormone bilden. Zono glomerulosa (Bildung von Aldosteron), Zona fasciculata (Bildung von Cortisol) und die reticularis (Bildung von Androgenen). Das Stresshormon Cortisol wird in der Nebennierenrinde gebildet und dient der Widerstandsfähigkeit gegenüber Stress wie auch der Aufrechterhaltung des Kreislaufes und Blutzuckers. Zeitgleich erfolgt für die Aufrechterhaltung des Salzhaushaltes die Bildund von Aldosteron. Ferner werden dort bei allen Menschen männliche Geschlechtshormone (sogenannte Androgene) produziert.

Zusatz-Informationen: Beim Adrenogenitalen Syndrom (AGS) handelt es sich um eine genetisch bedingte, angeborene Hyperplasie der Nebennieren, bei der der Syntheseweg zu einer verminderten Bildung von Aldosteron und Cortisol führt wie auch zu einer vermehrten Bildung männlicher Hormone. Es stellt eine Besonderheit des Steroid-Stoffwechsels dar. Durch diese Besonderheit kann eine Vorstufe (Cholesterol bzw. später Progesteron) von Aldosteron (in der Zona glomerulosa) bzw. Cortisol (in der Zona fascinata) nicht in Aldosteron bzw. Cortisol umgewandelt werden. Der Stoffwechselweg zum Testosteron ist jedoch funktionstüchtig. Durch einen Rückkoppelungsvorgang wird das Testosteron vermehrt produziert. Dabei wird dem Gehirn ein Aldosteron- bzw. Cortisolmangel rückgemeldet, sodass der Körper verstärkt Cholesterol bzw. im weiteren Verlauf Progesteron produziert, dass jedoch in Testosteron überführt wird.

Abbildung

Dadurch kann eine Klitoris entstehen, die manchmal von ihrer Größe her penisartig erscheint.

Abbildung zu Variationen des menschlichen Genitale

Wenn die Stoffwechsel-Besonderheit den Aldosteron-Stoffwechsel betrifft, kann es zu einem lebensgefährlichen Salzverlust mit schweren Wasserverlust kommen, der sofort behandelt werden muss. Die Kinder erhalten die fehlenden Hormone Aldosteron von Fludrocortison und Cortison in Form von Cortisol. Hierbei handelt es sich um eine lebenslange Hormonersatztherapie. Wegen des lebensbedrohlichen Aspektes erfolgt bei der Geburt ein Screening der Neugeborenen (Broschüre zum Neugeborenen-Screening, pdf). Der Früherkennungstest misst die Konzentration des Hormons 17-Hydroxy-Progesteron. In einigen Kindern kann sich ein Sinus urogenitalis auftreten, d.h. ein gemeinsamer Ausführgang von Harnleiter und Vagina. Dies bedeutet, dass der Harnleiter in die Vagina mündet. Der Sinus urogenitalis kann auch bei anderen Varianten der Geschlechtsmerkmale vorliegen. Wichtig: Sofern der Urin ungehindert abfließen kann, ist keine Operation im nicht-einwilligungsfähigen Alter notwendig. Allgemein wurde bislang die operative Trennung von Harn- und Geschlechtstrakt (Trennung von Harnröhre und Vagina) in den ersten beiden Lebensjahren empfohlen und als medizinisch indiziert angesehen. Die Indikation zur Operation wird aktuell jedoch kontrovers diskutiert (→AWMF-Leitlinien, pdf).

S2k Leitlinie zur operativen Behandlung der distalen, mittleren und proximalen Hypospadie (2021, AWMF-Leitlinien, pdf)

Vertiefende Informationen zu Hypospadie

Bei Hypospadien handelt es sich um Besonderheiten der Lage der Harnröhrenöffnung (Meatus) am Penis. Sie kann mit einer Krümmung des Penis verbunden sein. Meist sich an der Lage des Meatus orientierend, wurden verschiedene Klassifikationen entwickelt.

  1. Vordere Hypospadie (anteriore/distale Hypospadie)
    a. sine, d.h. übliche Lage des Meatus bei Besonderheit der Vorhaut
    b. Eichel (glandulär)
    c. Übergang Penisschaft / Eichel (koronal)
  2. Mittlere Hypospadie
    a. am Ende des Penisschaftes (penil distal)
    b. Penisschaftmitte (midshaft)
    c. körpernaher Penisschaft (penil proximal)
  3. Hintere Hypospadie (posteriore/proximale Hypospadie)
    a. Übergang Penis / Hodensack (penoscrotal)
    b. Hodensack (scrotal)
    c. Damm (perineal)

Schematische Darstellung des Penis von der Unterseite mit Besonderheiten der Lage der Harnröhrenöffnung:

Häufigkeiten: liegen bei etwa 1/300 neugeborenen Kindern vor und nehmen in den letzten Jahren zu.
75 Grad II: mittlere Hypospadien, wobei hier oftmals zwei Operationen und mehr erforderlich sein können
10 Grad I: distale Hypospadien
15 Grad III: proximale Hypospadien
Die Ursache für die Entwicklung einer Hypospadie ist nicht geklärt. In der Wissenschaft werden sowohl genetische als auch hormonelle sowie verschiedene Umwelteinflüsse diskutiert. Quelle: Zentrum Penischirurgie.
Krankheitswertigkeit: Wenn der Abfluss des Urin nicht beeinträchtigt ist, gibt es keine körpermedizinische Begründung, Hypospadien im nicht-einwilligungsfähigen Alter zu operieren. Bei einer Peniskrümmung können Schmerzen bei einer Versteifung des Penis auftreten. Es ist jedoch nicht im Vorfeld abzuschätzen, bei wem dies erfolgt und wer nicht davon betroffen sein wird. Operationen wegen Hypospadie können ebenfalls postoperativ zu Schmerzen am Penis mit oder ohne Versteifung führen, wie auch beim Wasserlassen. Eine angenommene, zukünftige psychische Belastung durch die Tatsache, dass ein Kind mit Hypospadie nicht im Stehen wasserlassen kann, ist keine ausreichende Begründung für eine aus körpermedizinischer Sicht nicht notwendigen Operation im nicht-einwilligungsfähigen Alter.

S2k-Leitlinie Phimose und Paraphimose bei Kindern und Jugendlichen (2021, AWMF-Leitlinien, pdf)

S2k-Leitlinie Varianten der Geschlechtsdifferenzierung (für Dez. 2023 erwartet, AWMF-Leitlinien, pdf)

S2k-Leitlinie Varianten der Geschlechtsentwicklung (2016, AWMF-Leitlinien, pdf)

S2k-Leitlinie Weibliche genitale Fehlbildungen (2020, AWMF-Leitlinien, pdf)